Auch Kinderärzte plädieren vehement dafür, dass mehr Arzneimittel mit pädiatrischer Zulassung auf den Markt gebracht werden. Und das nicht allein aus Gründen der besseren Anpassung der Arzneimittel an die Pathophysiologie und Pharmakokinetik ihrer speziellen Zielgruppe: Nach einer Befragung von Diapharm unter 40 Kinderärzten in Deutschland spielt auch ein anderer Grund eine erhebliche Rolle: Auf die Frage „Würden Sie zukünftig Off-Label-Produkte verschreiben, wenn Ihnen für Kinder zugelassene Präparate (etwas teurer) zur Verfügung stünden“ antworteten 34 der Befragten (80 %), dass sie lieber teurere pädiatrische Zulassungen verschreiben würden, wenn es die Möglichkeit gäbe. Zur Begründung wurde vielfach auf die juristische Unsicherheit des Off-Label-Use und die damit verbundene Haftungsfrage verwiesen.
Nicht nur für Arzneimittel bei chronischen Krankheiten, sondern bei sämtlichen Arzneimitteln, die nicht oder nicht ausschließlich von medizinischem Fachpersonal verabreicht werden, sind einige grundlegende Forderungen an kindgerechte Darreichungsformen zu stellen. Sie müssen:
Erfüllen sie diese Anforderungen nicht, kann es zu Problemen bei der Arzneimittelgabe/-einnahme kommen. Wichtig ist beispielsweise, Verwechslungsgefahren auszuschließen, etwa die dauerhafte Zuordbarkeit von Dosier- und Applikationshilfen zum Medikament zu gewährleisten. Klare Einheitenteilungen sowie leicht verständliche Patienteninformationen sind insbesondere dann von Bedeutung, wenn die jungen Patienten – etwa während der Schulzeit – ihre Medikation selbst vornehmen sollen.
Dass das einfache „Herunterrechnen“ von Arzneimitteldosen auf das Körpergewicht von Kindern häufig wenig zielführend ist, ist hinreichend bekannt. Weniger Beachtung findet jedoch, dass auch die Dosiertechnik an die Altersgruppe angepasst werden muss. Das für Kinder erforderliche Dosisvolumen liegt allzu oft außerhalb des Toleranzbereichs einer für Erwachsene gestalteten Dosierungshilfe. Dadurch erhöht sich die Gefahr, dass überhöhte oder unzureichende Dosierungen verabreicht werden.
Tropfer beispielsweise weisen häufig (winkelabhängige) Toleranzen der Tropfengröße auf, die zwar für die Dosierung beim Erwachsenen innerhalb des Toleranzbereiches liegen, aber kein sicheres Abmessen von reduzierten Arzneimittelmengen für Kinder mehr ermöglichen. Zumal die Dosisspanne für unterschiedliche Altersgruppen sehr groß sein kann, denn je nach erstrebter Zulassung muss das Arzneimittel für Neugeborene mit 3,5 kg Körpergewicht ebenso wie für Jugendliche mit 70 kg anwendbar sein.
Laut der EMEA ist für Kinder unter 5 Jahren ein maximales Dosisvolumen von 5 ml sinnvoll, für ältere Kinder maximal 10 ml. Die Universität Düsseldorf hat jedoch bei Untersuchungen von handelsüblichen Messsystemen festgestellt, dass es aufgrund der Oberflächenspannung der Flüssigkeiten beim Abmessen am Markt befindlicher, für Kinder zugelassener Antibiotika-Säfte zu Überdosierungen von bis zu 15 oder gar 30 Prozent kam, wenn mit der mitgelieferten Dosierhilfe statt eines ganzen nur ein halber oder viertel Messbecher abgemessen wurde, wie es für unterschiedliche Altersgruppen üblich ist.
Ein häufiges Problem pädiatrischer Arzneimittel ist psychologischer Art, nämlich die Verweigerung der Medikation durch den Patienten. Häufige Gründe hierfür sind:
Gerade bei der wiederholten Gabe von als unangenehm empfundenen Arzneimitteln kommt es zu solchen Ablehnungsreaktionen. Hier sind die pharmazeutischen Unternehmen gefordert, Darreichungsformen zu entwickeln, die geringere psychische Hemmschwellen hervorrufen.
Soweit möglich sollte aus den genannten Gründen eine nadelfreie Applikation des Arzneimittels angestrebt werden. Beispielsweise kann eine nasale Administration bei geeigneten Indikationen an die Stelle einer Injektion treten: Sie erlaubt einen direkten Zugang zur Systemischen Zirkulation, geeignet beispielsweise zur Behandlung von Rhinitis oder allergiebezogenen Indikationen. Problematisch sind hier allerdings physiologische und pathophysiologische Schwankungen, etwa in der Schleimhautpermeabilität, eine geringere Effizienz bei starker Sekretion, und so fort. „Die“ optimale Applikationsform gibt es auch bei Kinderarzneimitteln nicht.
Als durchweg gute Applikationsform für alle pädiatrischen Altersgruppen haben sich, einer kursorischen Untersuchung der EMEA zufolge , jedoch die Topika (Salbe, Creme, Gel, flüssige Formen) herausgestellt. Die EMEA hat hierfür 40 Kinderärzte, Pharmazeuten und Eltern befragt. Für Säuglinge bis 28 Tage und Frühgeborene präferierten diese vor allem rektale Formen (Suppositorien/Zäpfchen, Einlauf), dicht gefolgt von den Topika. Bei Kleinkindern unter 2 Jahren und Kindern von 2 bis 6 Jahren waren flüssige orale Formen (Lösung, Emulsionen, Suspensionen, aber auch Brausetabletten) beziehungsweise topische Formen die Methode der Wahl. Feste orale Darreichungsformen könnten bei den älteren Kindern dieser Gruppe in Betracht gezogen werden, wenn die Einnahme ausreichend geübt werde. Dies hänge jedoch stark vom Entwicklungsniveau und dem Gesundheitszustand des einzelnen Patienten ab. Erst bei Kindern ab 6 bis 12 Jahren lagen die festen oralen Formen (Tabletten, Kautabletten, Kapseln, Pulver) etwa gleichauf mit den Topika sowie Inhalatoren (dry powder inhaler, DPI). Bei Jugendlichen ab 12 Jahren schließlich wurden feste orale Formen gemeinsam mit topischen Formen und DPIs als Applikationsform der Wahl genannt.
Bei Wirkstoffen, die sich für topische Formen wie Salben, Gele und Cremes eignen, hat sich diese Darreichungsform in allen pädiatrischen Altersgruppen in der Praxis gut bewährt und wird von den Patienten akzeptiert. Frühestens ab einem Patientenalter von zwei Jahren kommen auch transdermale Pflaster in Betracht, die eine gleichmäßige Wirkstoffabgabe über einen längeren Zeitraum ermöglichen und dadurch in einigen Bereichen eine Alternative etwa zu Infusionen – und damit zur „Nadel“ – bieten können. Transdermale Pflaster könnten sich etwa für Analgetika, Sedativa, kardiovaskuläre und ähnliche Arzneimittel eignen.
Allerdings sind bei den Topika einige Besonderheiten der pädiatrischen Zielgruppen zu beachten. So ist die Körperoberfläche im Verhältnis zum Gewicht bei Säuglingen etwa doppelt so hoch wie bei Erwachsenen. Zudem ist die Hautdicke – gerade bei Neugeborenen – geringer, was zu höheren Plasma- und Gewebespiegeln des Wirkstoffs und zu Toxizitätsgefahren führen kann. Gerade bei Topika für Kleinkinder und Neugeborene sollte die maximale Applikationsfläche also zwingend limitiert und kontrolliert werden.
Gegenüber den topischen Formen hat die perorale Gabe von Arzneimitteln den Vorteil einer deutlich exakteren Dosierbarkeit des Wirkstoffes. Zudem bieten geeignete Stoffkombinationen die Möglichkeit, die Freisetzung zeitlich zu steuern. Dies trifft vor allem auf feste Formen wie Tabletten zu. Nachteil ist hier die Problematik des sicheren Schluckens – gerade bei Kindern unter 6 Jahren. Für diese Altersgruppe können eventuell Minitabletten (vgl. Grafik 1) in Frage kommen. Eine Studie mit 100 Kindern zeigte, dass 85 Prozent der 5-Jährigen eine solche Minitablette anstandslos einnehmen konnten. Bei jüngeren Kindern sind eher Säfte, Emulsionen oder Suspensionen eine geeignete Darreichungsform.
Bei allen oralen Formen spielt der Geschmack, bei den topischen Formen der Geruch, für die jungen Zielgruppen eine bedeutende Rolle. Die Wahrnehmung von Kindern unterscheidet sich dabei signifikant von der Wahrnehmung der Erwachsenen. Geschmack und Geruch werden erlernt, und zwar über einen längeren Zeitraum, und durch soziale und kulturelle Einflüsse beeinflusst.
Kinder benötigen dabei allerdings häufig höhere Konzentrationen als Erwachsene, um Geschmackseindrücke wahrzunehmen. Sensorische Untersuchungen mit 400 Kindern zwischen 3 und 8 Jahren im Rahmen des noch bis 2011 laufenden EU-Studienprojekts IDEFICS haben ergeben, dass sich die Geschmacksempfindung „süß“ bei Kindern erst bei 8,6 Gramm Zucker pro Liter Wasser einstellt – Erwachsene identifizieren auch erheblich niedrigere Zuckerkonzentrationen. In Arzneimitteln wird Zucker häufig durch nicht-kariogene Süßstoffe ersetzt.
Allerdings scheint es, als seien nicht alle Süßstoffe geeignet, das zuckerige Geschmackserlebnis nachzubilden. Saccharin oder Aspartam etwa bringen bei hohen Konzentrationen einen bitteren Nachgeschmack mit sich. Produkte mit bitteren Aromen wiederum werden oft bereits bei niedriger Konzentration abgelehnt, ebenso Pfefferminz, das als „würzig“ oder „scharf“ beschrieben wird.
Die EMEA hat in ihrem Reflection Paper (EMEA/CHMP/PEG/194810/2005) eine Liste von Geschmacksrichtungen vorgeschlagen, die dabei helfen können einen möglicherweise unangenehmen Geschmack des originalen Wirkstoffs/Arzneimittels zu überdecken:
Aber Achtung: Komplexe Geschmacksmixturen können Kinder nicht gut differenzieren, sie werden eher abgelehnt. Eine gute Akzeptanz des Arzneimittels kann dadurch erreicht werden, dass ein bereits bekannter Geschmack verwendet wird. In jungen Jahren hat zudem auch die Farbe einen großen Einfluss auf die Geschmackswahrnehmung. Orale Darreichungsform für Kinder sollten all diese Faktoren berücksichtigen.
Neben dem Geschmack oder Geruch kann auch die optische Darreichungsform die Akzeptanz eines Arzneimittels entscheidend beeinflussen. Eine exakte Medikation kann zwar mit klassischen Tropfern, Messbechern, Aufziehspritzen o.ä. erreicht werden. Solche im sonstigen Alltag des Kindes nicht auftauchende Applikations- und Dosierhilfen rufen jedoch eher Ablehnung hervor als bekannte Darreichungsformen. Aus diesem Grund werden pädiatrische Arzneimittel oft der regulären Nahrung oder Getränken beigemischt. In solchen Fällen nimmt das Lebensmittel die Funktion einer (oralen) Applikationshilfe ein, beispielsweise um einen unangenehmen Geschmack zu überdecken.
Allerdings lauern hier Gefahren. Sie reichen vom Zurückbleiben zerkleinerter Reste fester Arzneimittel im Mörser über unvollständige Aufnahme der Nahrungsmittelportion – beides resultierend in Unterdosierungen – bis zur Verwendung ungeeigneter Flüssigkeiten oder Nahrungsmittel als Trägersubstanz. Will ein Hersteller diese Art der Arzneimittelgabe unterstützen, so eignet sich am ehesten ein Pulver in Einzeldosis-Sachets als pädiatrische Darreichungsform. In der Packungsbeilage sollte angegeben werden, welche Lebensmittel in welcher Portionsgröße sich für das Mischen mit dem Arzneimittel eignen und, wichtiger noch, welche Lebensmittel sich dafür nicht eignen, zum Beispiel aus Gründen der Wirkstoffstabilität, -freisetzung oder einer mangelhaften Geschmacksüberdeckung.
Geschmack, Geruch und Aussehen haben für Kinder einen hohen Stellenwert bei der Akzeptanz eines Arzneimittels. Da sich die Wahrnehmung von Kindern signifikant von der Erwachsener unterscheidet, ist die Einbeziehung der Zielgruppe schon in einem frühen Entwicklungsschritt ein entscheidender Faktor für Erfolg oder Misserfolg des Produkts am Markt.
Produktentwickler aus der Spielzeug- und aus der Lebensmittelindustrie können hier wertvollen Input zu kindgerechter Haptik, zu Aussehen und Geschmack möglicher Darreichungsformen und Applikationshilfen liefern. Bislang wird ihr Know-how noch selten genutzt.
Auch pädiatrische User Testings können dabei helfen, unangenehme Überraschungen bei der Patienten-Compliance bereits im Vorfeld zu vermeiden. Ähnlich dem Readability User Testing der Packungsbeilage werden hier die potenziellen Anwender – also Kinder der jeweiligen Altersgruppe – zur Darreichungsform befragt.
Möglich ist die Testung von Präferenzen mit Hilfe eines speziell angepassten Fragebogens bereits im Vorschulalter. Antworten auf Fragen nach dem Geschmack können etwa über eine Bilder-Skala mit Gesichtern ermittelt werden (vgl. Grafik 2). Auch die Testung über Rangfolgen (Ranking) ist möglich. Bei Schulkindern können auch numerische Skalen zur Bewertung in Betracht gezogen werden.
Nur ein Teil aller Arzneimittel ist bislang für Kinder zugelassen. Davon ist wiederum nur ein Teil auch in speziell für Kinder geeigneten Darreichungsformen am Markt verfügbar. Mit der Verordnung 1901/2006/EG hat die Europäische Kommission Zwänge geschaffen, mit der diese Situation verändert werden soll. Sie hat jedoch auch Anreize bereitgestellt wie die Möglichkeit, einen Patentschutz um sechs Monate zu verlängern oder für pädiatrische Arzneimittel unter bestimmten Bedinungen einen Marktschutz von bis zu 10 Jahren zu gewähren.
Hinzu kommt, dass innovative Darreichungsformen, Applikations- oder Dosierhilfen ein echtes Alleinstellungsmerkmal im Wettbewerb bieten können. Denn die Patienten-Compliance ist ein zentrales Kriterium für den Heil- und für den Markterfolg pädiatrischer Arzneimittel.
Je jünger die Patienten, desto wichtiger ist die „ansprechende Verpackung“ eines Arzneimittels. Hier bieten sich für die Hersteller interessante Möglichkeiten, sich durch innovative und kindgerechte Darreichungsformen vom Wettbewerb abzusetzen. In Frage kommen beispielsweise
Es liegt an der pharmazeutischen Industrie, die Chancen zu nutzen, die innovative Darreichungsformen im Wettbewerb bieten können.